Disruptionschancen in der Wohnungswirtschaft – neue Geschäftsmodelle für die Assetklasse Wohnen | Tobias Singer - real PACE
Wie geht es eigentlich der deutschen Wohnungswirtschaft? Einerseits gab es eine lang anhaltende wirtschaftliche Hochphase mit hohen Renditen und günstiger Marktentwicklung. Andererseits hat kaum eine Branche solch einen schlechten Ruf in - zumindest Teilen - der Öffentlichkeit. Und nun kommt gleich eine ganze Reihe großer Herausforderungen auf die WoWi zu.
Aus der Zeit gefallen
Die Vorwürfe gegen die Wohnungswirtschaft sind vielfältig und bestimmt kennen Sie die meisten von ihnen: “Die Branche ist geprägt von analogen und ineffizienten Prozessen, die veraltete, wenig kundenfreundliche Geschäftsmodelle am Leben erhalten.” Oder: “Die großen Wohnungsunternehmen machen sich auf Kosten der Mieter und der Allgemeinheit die Taschen voll.” Und natürlich: “Wohngebäude sind CO2-Schleudern, die den Klimawandel befeuern.”Wie viel Wahrheit steckt in solchen Aussagen? Ein Stück weit liegt das im Auge des Betrachters, doch es lässt sich nicht leugnen, dass in ihnen ein wahrer Kern steckt. Die Anbieterlandschaft in der Wohnungswirtschaft ist fragmentiert und intransparent, weshalb die Kosten an vielen Stellen höher sind, als sie sein müssten. Und wie in der gesamten Bau- und Immobilienbranche wird auch in der WoWi mit Intransparenz Geld verdient. Aufgrund der langen Hochphase bestand kein akuter Anlass für die schnelle Umsetzung von Innovationen, die diese Ineffizienzen beheben. Die besondere Branchenstruktur schützte zudem recht gut vor disruptiven Geschäftsmodellen von außen.
Ist die Wohnungswirtschaft besser als ihr Ruf?
Das gezeichnete Bild zeigt jedoch nur eine Seite der Wohnungswirtschaft. Es gibt auch eine andere, moderne und weniger dröge Seite, die immer mehr zum Vorschein kommt und es in Zukunft auch noch mehr kommen muss. Denn die Herausforderungen, vor denen die Branche nun steht, sind immens. Der Veränderungsdruck kommt von allen Seiten - und er wird weiter zunehmen. Der Klimawandel führt zu regulatorischen Maßnahmen wie der EU-Taxonomie und einer zunehmenden Bedeutung der ESG-Kriterien. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung betrifft die Branche sowohl beim Neubau als auch der energetischen Sanierung von Wohngebäuden. Wie das alles ohne ausreichende Handwerker und sonstige Fachkräfte gelingen soll? Das ist einen eigenen Artikel wert. Dazu kommen gesamtgesellschaftliche Megatrends wie der demografische Wandel und externe Schocks wie die Pandemie und der russische Einmarsch in die Ukraine.Das Wohnen der Zukunft soll also nachhaltig, nutzerfreundlich und gleichzeitig bezahlbar sein. Es braucht einen tiefgreifenden Wandel hin zu neuen Geschäftsmodellen, die dazu geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen. Kein Wunder also, dass aktuell Rekordsummen in PropTechs und ConTechs investiert werden und immer mehr arrivierte Wohnungsunternehmen mit Startups kooperieren.
Neue Geschäftsmodelle für die Wohnungswirtschaft
Doch welche Geschäftsmodelle werden die Wohnungswirtschaft in den nächsten Jahren wirklich verändern? Dieser Frage sind wir in unserem Whitepaper nachgegangen und haben vier Bereiche identifiziert, in denen diese Geschäftsmodelle zu einer Lösung beitragen:
- Ermöglichung eines nachhaltigen Gebäudebetriebs
- Schaffung zusätzlichen, bezahlbaren Wohnraums
- Verschärfung des Kundenfokus
- Überbrückung des Handwerkermangels
Ermöglichung eines nachhaltigen Gebäudebetriebs
Gebäude sind für 38% des globalen CO2-Ausstoßes verantwortlich, daher ist es nur logisch, dass in der Wohnungswirtschaft ein großer Druck, aber auch ein außerordentliches Potenzial zur Einsparung von Emissionen besteht. 42,5 Millionen Wohneinheiten müssen spätestens mittelfristig nachhaltig betrieben werden.Beim Neubau hat man es hier leichter, da in Planung und Ausführung moderne Energiestandards eingehalten und nachhaltigere Baustoffe verwendet werden können. Doch auch der umweltfreundlichste Neubau kann nicht die Menge an CO2 einsparen, die bei seiner Errichtung entstanden sind. Zudem stehen heute schätzungsweise bereits 80% aller Gebäude, die es im Jahr 2045 geben wird. Der Schlüssel zur Erreichung der Klimaziele liegt somit in der Sanierung und Umrüstung des Bestands.Zur Verringerung der Emissionen müssen weite Teile der Wohngebäude in Deutschland energetisch saniert werden - und zwar sehr viel schneller als es heute der Fall ist. Um dies zu erreichen müssen einerseits die Eigentümer dieser Gebäude incentiviert bzw. überhaupt in die Lage versetzt werden, die nötigen Investitionen zu tätigen. Ein großer Teil der deutschen Wohnungen gehört privaten Vermietern, die nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügen und häufig auch schon zu alt für einen herkömmlichen Baukredit sind. Hier setzen diverse neue Geschäftsmodelle an: Vom Teilverkauf von Gebäuden, um die Liquidität privater Eigentümer zu erhöhen, über innovative Finanzierungsprodukte, bei denen die Tilgung erst beim Verkauf der Immobilie (und somit oft nach dem Tod der Eigentümer) erfolgt, bis zum “Smart-Block-Konzept”, das einen gesamten Gebäudeblock CO2-neutral betreibt.Ein weiteres Konzept, das energetische Sanierungsvorhaben ankurbeln kann, ist das in den Niederlanden entwickelte Energiesprong. Der Clou dabei ist, neben der weiter unten folgenden Vorfertigung, die warmmietenneutrale Refinanzierung. Diese löst ein Dilemma, das bislang ein schnelleres Sanierungstempo verhindert hat: Während die Kosten auf der Vermieterseite liegen, profitieren die Mieter von den geringeren Energiekosten. Beim Energiesprong werden die Sanierungskosten bis zur Höhe der eingesparten Energiekosten auf die Kaltmieten umgelegt, sodass ein Anreiz auf Vermieterseite geschaffen wird, ohne die Mieter mit höheren Wohnkosten zu belasten.Nicht zuletzt gehören in diesen Bereich auch sämtliche Geschäftsmodelle, die zu einer Optimierung des Energieverbrauchs beitragen. Dies beginnt bei der Messung und Datenerhebung aktueller Verbräuche und geht über die datenbasierte Steuerung bis zu Smart Metering und Predictive-Maintenance-Konzepten.
Schaffung zusätzlichen, bezahlbaren Wohnraums
Insbesondere in Großstädten besteht ein akuter Mangel an Wohnraum. Das Angebot hängt der Nachfrage hinterher, die Mieten steigen stetig und die Qualität der angebotenen Wohnungen bleibt oftmals auf der Strecke. Gleichzeitig gibt es selbst in Städten wie Berlin einen beachtlichen Leerstand von Gebäuden.Hierbei handelt es sich nicht nur um notorische Spekulationsobjekte, die zur Profitmaximierung unvermietet bleiben, sondern auch und gerade um andere Gebäudeklassen. Die Corona-Pandemie hat den Trend zum Homeoffice und die Erosion des Einzelhandels beschleunigt. In der Folge wird die Umnutzung von Büro- und Geschäftsgebäuden zu einer attraktiven Alternative zum Neubau. Hierfür gibt es bereits einige Best Practices am Markt zu beobachten, z.B. bei der Umnutzung der Bürostadt Niederrad in Frankfurt.Weitere Geschäftsmodelle, die für zusätzlichen Wohnraum sorgen, sind Co-Living - also das gemeinschaftliche Wohnen auf Zeit - und Mikroapartments. Letztere entwickeln sich immer mehr zu einer eigenen Assetklasse mit einer immer professionelleren Anbieter- und Angebotsstruktur. Beim Nutzen der dritten Dimension für mehr Wohnfläche sind in Deutschland hingegen Grenzen gesetzt: Moderne Wohntürme wecken gewisse Assoziationen zu Plattenbauten und passen in den meisten deutschen Großstädten nicht ins gewohnte Stadtbild.
Verschärfung des Kundenfokus
Noch zu oft wird in der Wohnungswirtschaft vergessen, wer der eigentliche Kunde ist. Vermieter, die über ihre Mieter im Grunde nichts wissen, sind immer noch an der Tagesordnung. Wie sollen also deren Bedürfnisse angemessen berücksichtigt und befriedigt werden? Und warum müssen Hausverwaltungen im Jahr 2022 noch Mitarbeiter mit ausgedruckten Zetteln in ihre Liegenschaften entsenden, um dort Ankündigungen ans schwarze Brett zu hängen?Viele größere Wohnungsunternehmen sind hier zugegeben schon ein gutes Stück weiter und versuchen mit digitalen Mieterakten, Mieterapps und standardisierten Kommunikationsprozessen die Kundenbeziehung auf ein angemessenes Niveau zu heben. Damit ist es jedoch noch nicht getan, wenn das gesamte Potenzial der Kundenorientierung gehoben werden soll. Denn die Anforderungen der Kunden verändern sich im Zuge von Homeoffice, Digitalisierung, Mobilitätswandel und einer alternden Gesellschaft immer schneller.An vielen Stellen des Kundenlebenszyklus gibt es noch viele unerschöpfte Möglichkeiten für Innovationen: Die Digitalisierung des Vermietungsprozesses, das Angebot wirklich nachgefragter Zusatzleistungen und auch die Kundenkommunikation. Die diverse Mieterstruktur stellt hierbei eine Herausforderung dar, denn um alle Mieter gleichermaßen zu erreichen, müssen auch digitale Prozesse oft noch zusätzlich analog vorgehalten werden. Statt eines Effizienzgewinns bedeutet dies somit sogar einen höheren Aufwand. Statt Digitalisierung um jeden Preis sollte hier unbedingt vom Kunden her gedacht werden.Eine Besonderheit der Branche könnte hier zukünftig zum Vorteil werden: Bei aller Digitalisierung bleibt das Gebäude als physisches Asset immer bestehen - zumindest solange wir uns außerhalb des Metaverse bewegen. Eine Trennung dieses Assets als Anlageobjekt vom Gebäudebetrieb als echte, kundenzentrierte Dienstleistung könnte sowohl den Mietern als auch den Investoren zugute kommen. Neue Eigentumsformen werden in Zukunft ebenfalls eine größere Rolle spielen. Dabei muss nicht unbedingt die Blockchain bemüht werden, auch moderne Genossenschafts- und Mietkauf-Modelle bieten Mietern die Möglichkeit, am Wertzuwachs ihres Zuhauses zu partizipieren.
Überbrückung des Handwerkermangels
Sie werden sich jetzt vielleicht fragen, wie diese ganzen schön klingenden Dinge in der Praxis umgesetzt werden sollen, wenn die dafür benötigten Fachkräfte fehlen (dieses komplexe Thema ist eigentlich einen eigenen Artikel wert). Zum Glück gibt es auch hier neue Geschäftsmodelle, die Abhilfe schaffen können.Ein Ansatz besteht in der optimierten Zusammenführung von Angebot und Nachfrage. Trotz aller Auslastung der Handwerksbetriebe gibt es noch vereinzelten Leerlauf, der zur Befriedigung eines Teils der Nachfrage genutzt werden kann. Hierbei geht es um die richtige zeitliche, regionale und fachliche Verknüpfung dieser beiden Marktseiten. In Zeiten immer größerer Spezialisierung können solche Modelle einen Teil zur Verringerung des Handwerkermangels beitragenEin weit größerer Hebel besteht allerdings bei Geschäftsmodellen, die den Bedarf an Fachkräften verringern. Während bestimmte Handwerksleistungen noch an Komplexität zunehmen werden, gibt es in anderen Bereichen viele Möglichkeiten zur Vereinfachung, Standardisierung und Automatisierung. Serielles Bauen, industrielle Vorfertigung und eine modulare Bauweise sind im gewerblichen Bau schon angekommen und spielen auch im Wohnungsbau eine immer größere Rolle. Das “Lego für Große” bietet heutzutage so viele optische Individualisierungsmöglichkeiten, dass die Vorbehalte spürbar abnehmen. Im Bestand sorgt das oben genannte Energiesprong-Konzept für Bewegung und schon bald werden wir auch hier einen deutlichen Anstieg an seriellen Sanierungen sehen.
Ausblick:
Wie wird die Wohnungswirtschaft in 10 oder 20 Jahren aussehen, wenn viele oder zumindest einige der genannten Geschäftsmodelle sich durchgesetzt haben? Das ist ohne Glaskugel selbstverständlich kaum zu beantworten. Die Chancen stehen jedoch gut, dass wir es mit einer viel kundenfreundlicheren, auf ihren eigentlichen Zweck fokussierten und nach wie vor profitablen Branche zu tun haben werden - die dann hoffentlich auch mit einem deutlich besseren Ruf belohnt wird.
Über den Autor:
Tobias Singer ist Projektmanager für Geschäftsmodellentwicklung bei real PACE. Zuvor war er elf Jahre in den Bereichen Online Marketing und E-Commerce tätig und hat Marketing-Teams für Start-Ups und Scale-Ups aufgebaut und geleitet.
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